Imola – Der Tod von Formel-1-Legende Ayrton Senna am 1. Mai 1994 versetzte Brasilien einen Schock. In seiner Heimatstadt Rio de Janeiro nahm man von dem dreimaligen Weltmeister in einer großen Zeremonie Abschied, Blütenblätter wurden aus den Kabinen der Seilbahn zum Zuckerhut gestreut.
Die Königsklasse des Motorsports musste nach dem verhängnisvollen Wochenende von Imola einen Ausweg aus ihren vielleicht dunkelsten Stunden finden. «Senna war für mich unverwundbar», erzählte Teamchef Frank Williams einmal über seinen damaligen Piloten. «Er ist Gott», huldigte ihm sein langjähriger Physiotherapeut Josef Leberer. «Er hatte diese Aura, sein Enthusiasmus, seine Neugier und Energie waren beeindruckend», schwärmte Designer Adrian Newey, von dem noch die Rede sein wird. «Wenn er nicht umgekommen wäre, wäre er heute vielleicht Präsident Brasiliens.»
Der Schrecken an jenem Wochenende zum Großen Preis von San Marino hatte sich förmlich aufgebaut. Im Auftakttraining am Freitag hob Rubens Barrichello mit seinem Jordan-Hart ab und schoss in den Fangzaun. Der Brasilianer überstand den Unfall wie durch ein Wunder ohne ganz große Verletzungen.
Einen Tag später verunglückte der erst zu Jahresbeginn in die Formel 1 aufgestiegene Roland Ratzenberger im Abschlusstraining tödlich. Wegen eines beschädigten Flügels an seinem Simtek-Ford raste der Österreicher mit 314 km/h vor der Tosa-Kurve frontal in die Betonbegrenzung und erlag seinen schweren Kopfverletzungen. Zwölf Jahre nach dem Italiener Riccardo Paletti in Montréal betrauerte die Formel 1 wieder ein Todesopfer an einem Rennwochenende.
Senna war geschockt. Am Unfallort weinte er an der Schulter von Formel-1-Chefarzt Sid Watkins. Der Neurochirurg wollte den 34-Jährigen nach eigener Erinnerung zum sofortigen Rücktritt überreden. «Was willst du noch beweisen?», habe er Senna gefragt. «Hör auf und lass uns angeln gehen.»
Sennas damalige Freundin Adriane Galisteu erzählte, er habe ein «ganz schlechtes Gefühl» für das Rennen gehabt. Am liebsten habe er nach seiner 65. Pole Position gar nicht fahren wollen. Der 41-malige Grand-Prix-Gewinner tat es dennoch. Und schon zum Start in den Europa-Auftakt am Sonntag krachte es erneut. Der Portugiese Pedro Lamy raste im Lotus mit voller Wucht in den stehen gebliebenen Benetton des Finnen JJ Lehto, umherfliegende Fahrzeugteile verletzten mehrere Zuschauer.
Nach dem Neustart passierte die Tragödie um Senna. Der erst vor der Saison von McLaren zu Williams gewechselte Pilot verlor in der sechsten Runde die Kontrolle über seinen Wagen und schlug vor einem TV-Millionenpublikum in der Tamburello-Kurve in spitzem Winkel in eine Betonmauer ein. Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf saß der Brasilianer leblos im Wrack, die Rennleitung brach den Grand Prix ab. Senna wurde geborgen und in die Maggiore-Klinik in Bologna gebracht. Nach Stunden des Hoffens wurde am Abend Sennas Tod bekanntgegeben.
«Imola war ein Desaster. Es hätte nicht schlimmer kommen können und es waren sehr bittere Tage danach», erinnerte sich einmal Michael Schumacher an das verheerende Wochenende, an dem auch er wie andere Top-Fahrer mit dem Weiterfahren haderte. Der Kerpener gewann den Grand Prix nach einem Neustart und kürte sich Ende des Jahres erstmals zum Weltmeister.
Die genaue Unfallursache wurde nie geklärt. Senna erlitt schwere Kopfverletzungen, weil er von einem losgerissenen Vorderrad am Helm getroffen wurde. Fakt ist auch, dass die Lenksäule an seinem Williams brach. «Was den Unfall verursachte, lässt mich bis zum heutigen Tag nicht los», sagte der damalige Chefdesigner Newey. «Viele gaben uns die Schuld dafür. Als hätten wir der Welt ein Gemälde von Michelangelo gestohlen», sagte Sennas Teamchef Williams mit einigen Jahren Abstand dem Fachmagazin «Auto, Motor und Sport».
Newey, später als Konstrukteur an den Weltmeisterwagen von Sebastian Vettel bei Red Bull maßgeblich beteiligt, musste sich sogar vor Gericht verantworten. «Es war eine extrem schwere Zeit», räumte der Brite ein. «Ich habe nie darüber nachgedacht, dass jemand in einem Auto, für das ich verantwortlich war, verletzt oder sogar getötet werden könnte.» Newey wurde später freigesprochen.
In Brasilien herrschte eine dreitägige Staatstrauer, die Formel 1 stürzte in eine Sinnkrise. Unter dem Nachdruck des damaligen Motorsportweltverbandchefs Max Mosley unterzog sich die Rennserie nach Jahren, in denen Unfälle vergleichsweise glimpflich ausgegangen waren, einer überlebenswichtigen Sicherheitskur. «Die Fahrer sollen ihren Spaß haben, ihre Spannung», sagte der Brite, «aber wir wollen nicht, dass sie verletzt werden.»
Unter anderem wurden die Cockpitwände hochgezogen, die Kopf-und-Nacken-Stütze HANS eingeführt und auf vielen Kursen weitere Auslaufzonen geschaffen. Nicht zuletzt der Tod des Franzosen Jules Bianchi, der 2014 in Japan in einen Bergungskran gekracht war und später seinen schweren Kopfverletzungen erlag, sorgte für die letzte gravierende Sicherheitsneuerung in der Formel 1: Zur vergangenen Saison wurde der Cockpitschutz «Halo» (englisch für Heiligenschein) eingeführt, der die Gefahr für Fahrer bei herumfliegenden Teilen vermindern soll. Es sind tragische Vermächtnisse.
(dpa)