Stuttgart/Traverse City (dpa/tmn) – Deutschland in den frühen 60ern: Luxus ist dank Wirtschaftswunder keine Schande mehr. Wer Geld hat, macht Urlaub in St. Tropez oder Monaco. Für die kleinen Fluchten aus dem Alltag baut Mercedes ab 1961 für stolze 25 500 Mark aufwärts wieder ein großes Cabrio.
Die offenen Varianten der Modellreihe W 111 gelten als das vornehmste, was die deutsche Autoindustrie diesseits des 600ers in jener Zeit auf die Räder stellt. Heute heißen die Luxusziele Dubai oder Hong Kong, und die vornehmsten Cabrios der Welt kommen aus England. In diesem Sommer will sich Mercedes die Lufthoheit im Oberhaus zurückholen und knüpft mit einer offenen S-Klasse an diese Tradition an.
Damit schließen die Schwaben eine ziemlich große Lücke. Denn obwohl der W 111 in den Typen 220 SE, 250 SE, 300 SE (W 112), 280 SE und als spätes Spitzenmodell 280 SE 3.5 mit V8-Motor stolze zehn Jahre lang gebaut wurde, hat es seit dem Produktionsende 1971 keinen Nachfolger mehr gegeben.
So verlockend die Aussicht auf die Frischluft im Flaggschiff auch sein mag, so edel der Luxusliner aussieht und so viel Elektronik die Schwaben für Komfort und Sicherheit unter das Blech gepackt haben – die Größe und vor allem die Grandezza des mittlerweile in Ruhe gereiften Vorgängers bleibt unerreicht. Zu opulent ist das Ornat aus Chrom, zu verlockend funkeln die schlanken, übereinanderstehenden Doppelscheinwerfer, und zu stolz steht der Kühlergrill im Wind.
Wer mit einem W 111 durch das neue Jahrtausend fährt, badet nicht nur in der Sonne, sondern auch in der Aufmerksamkeit aller anderen Verkehrsteilnehmer. Dabei könnte die Zeitreise bequemer kaum sein: Man thront in breiten Sesseln, deren Leder so dick ist wie bei einem Reitsattel. Vor dem Bauch ein Lenkrad, dem man mit seinem dünnen Kranz um den zierlichen Ring für die Hupe kaum zutraut, dass es ein solches Trumm von Auto auf Kurs hält. In den Fingern Schalter und Schieber, jeder so fein ziseliert wie vom Kunsthandwerker. Vor den Augen erst ein paar vornehm gerahmte Instrumente in einer Landschaft aus Leder und Wurzelholz und dahinter das Panorama einer schier endlosen Motorhaube, auf der ganz weit in der Ferne ein zierlicher Stern die Richtung weist. Und über einem nichts als die grenzenlose Freiheit: In diesem Auto steht einem der Himmel offen.
Zumindest wenn man genügend Fingerfertigkeit für das Verdeck besitzt. Denn wo heute ein Knopfdruck genügt und man für ein paar Sekunden etwas langsamer fahren muss, ist beim W 111 noch Handarbeit gefragt. Die Scheiben versinken zwar noch elektrisch in den Türen. Aber danach hält man an, steigt aus, faltet das Dach mühsam zusammen und friemelt dann auch noch eine schwere Leder-Persenning über das Sandwich aus Stoff und Stangen. Oder man sagt einfach dem Personal Bescheid.
Doch der offene Mercedes ist diese Mühe allemal wert. Zu erhaben ist das Gefühl souveräner Fortbewegung, als dass man sich lange über gebrochene Fingernägel und vielleicht sogar schmutzige Hände ärgern würde. Dafür muss man gar nicht in einen 280 SE 3.5 steigen, mit dem die Schwaben die Baureihe zum Ende der Laufzeit gekrönt haben. Sondern statt des 147 kW/200 PS starken Topmodells reicht selbst der 2,2 Liter kleine Reihensechszylinder des ersten 220 SEb für eine stilvolle Zeitreise. Natürlich sieht der Oldtimer mit seinen 88 kW/120 PS schon gegen das 335 kW/455 PS starke Basismodell seines Enkels ziemlich blass aus, vom Vergleich mit dem 463 kW/630 PS starken V12-Motor aus dem S65 AMG ganz zu schweigen. Doch vor 50 Jahren hat man sich damit wahrscheinlich wie der König der Lüfte gefühlt.
Ein Cabrio ist aber nicht nur ein Genuss, sondern auch eine gute Geldanlage: Der Wert hat sich in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt, sagt Mercedes-Sprecher Michael Allner. Und das Auktionshaus RM hat für ein besonders elegantes Exemplar des V8-Cabrios letzten Sommer in Monterey in Kalifornien 429 000 Dollar erzielt. Gemessen daran ist der mindestens 139 052 Euro teure Erbe aus dem Jahr 2016 fast ein zum Schnäppchen.