Mit intelligenten Assistenz-Systemen und künftigen Pneus möchte Continental seiner "Vision Zero" näherkommen: Einer Welt ohne Verkehrsunfälle.
Der Dodge fegt über die Eispiste. Der Bordcomputer hat Lenkung, Gas und Bremse übernommen, der schwarze Pickup ist autonom im Level vier unterwegs: Der Fahrer darf also was anderes machen. Plötzlich fällt die Steuerung für die Bremse aus. Was nun?
"Bis der Fahrer seine Zeitung zusammengefaltet hat und selber eingreifen und bremsen kann", weiß Jan Wagner, Entwickler bei Continental, "kann ja einiges passieren. Also muss sofort, als wäre es im Flugzeug, ein zweites ("redundantes") Bremssystem einspringen. Was auf dem eisigen Gelände von Continental auch tatsächlich passiert: Der Truck kommt zum Stehen. Gefahr bestand hier nie, denn die Situation ist simuliert: Auf seiner Teststrecke im schwedischen Arvidsjaur nahe des Polarkreises bereitet sich der Reifenfabrikant und Auto-Zulieferer auf das Zeitalter des autonomen Fahrens vor.
Die doppelte automatische Bremse als Teil extrem hoher Sicherheits-Anforderungen für selbstfahrende Autos gehört zu Continentals "Vision Zero", einem technik-übergreifenden Meta-Programm für künftiges unfallfreies Fahren. 1,25 Millionen Verkehrstote jährlich sind nicht hinnehmbar, findet (nicht nur) Vorstandschef Elmar Degenhart: "Verkehrsunfälle gehören endlich ins Museum. Das ist keine Utopie mehr."
Tatsächlich ist die Technik, um heutige und künftige autonome Fahrzeuge immer sicherer zu gestalten, schon recht weit fortgeschritten. Auch dank Zulieferern wie Continental, die etwa das kompakte, leichte Bremssystem entwickelt haben, das ABS, den Schleuderstopper ESC und das eigene Backup intelligent integrierten. Das ABS der neuesten Generation berechnet seinen Eingriff in nur fünf Millisekunden – doppelt so schnell wie bislang. Ein Fortschritt, der gerade auf Schnee subjektiv spürbar ist und objektiv den Bremsweg um 25 Prozent verkürzt. Doch, und das betonen die Hannoveraner verständlicherweise immer wieder: Die schönsten Regelsysteme wirken nur, wenn die Reifen ihre Befehle perfekt auf die Straße übertragen. Die Pneus spielen in "Vision Zero" mithin im Wortsinne eine tragende Rolle. Der Aufwand für neue Entwicklungen, die vier, fünf Jahre dauern, ist enorm. So druckt Continental für seinen neuen Performance-Winterreifen TS 860 S Formen für 900 verschiedene Lamellen, für den Spikes-Reifen Viking Contact 7 gar 2.000. Das macht den Reifenbäcker, ganz nebenbei, zum größten Nutzer von Metall-Druckern weltweit. Überaus aufwändig auch die Berechnungen der Profilblöcke, die sich mit dem Schnee quasi verzahnen müssen, und der Kanäle, die Schnee und Matsch nach außen abführen.
Dabei stoßen die Entwickler stets auf Zielkonflikte: Eigenschaften wie Sportlichkeit oder Haltbarkeit, deren Optimierung sich gegenseitig behindern und auch mit der für "Vision Zero" geforderten Sicherheit kollidieren. Dieses Problem sollen die Reifen der Zukunft deutlich mindern.
Denn Conti hat mit seinen Gummis noch viel vor. Sie sollen zum Sensor werden, für sich selbst und das ganze Fahrzeug. Die Basis dafür bietet schon heute das System eTIS (electronic Tire Information System), das den Luftdruck im innern misst und an den Bordcomputer funkt. Künftig sollen Fühler an verschiedenen Stellen des Reifens auch noch sicherheitsrelevante Infos wie Temperatur oder Profiltiefe ermitteln. Das Erkennen des Fahrbahnzustandes gehört ebenfalls zur Vision der Reifenentwickler. Um alle Infos zur Gesundheit der Pneus übermitteln zu können, soll ihr Material künftig leitfähig für elektrische Impulse werden.
In einem nächsten Schritt könnten sich die Reifen gar in ihrer Form verändern und so an die unterschiedlichen Fahrzustände anpassen lassen. Schmal, mit hohem Druck und geringer Aufstandsfläche etwa, um Aquaplaning zu verhindern. Für diese Mutation stehen den Entwicklern zwei Stellschrauben zur Verfügung: Der Luftdruck und die Breite zwischen den Felgenhörnern. Um etwa maximale Power auf den Asphalt zu übertragen, "wäre sehr viel Aufstandsfläche ein Traum", schwärmt Conti-Ingenieur Christoph Berger: Luftdruck raus, Breite an den Anschlag. Dann würde auch die Reifenflanke, wo heute noch der Conti-Schriftzug prangt, zur profilierten Lauffläche – und jedes PS potenter Sportwagen würde beim Beschleunigen auf die Straße gepresst. Das hat dann vielleicht nicht viel mit Sicherheit zu tun. Aber die Conti-Leute wissen natürlich, dass beim Autofahren auch künftig gilt: Ein bisschen Spaß muss sein.
Marcus Efler / mid
Quelle: GLP mid